Gespenster
Julia Hummer (Nina)   Sabine Timoteo (Toni), Julia Hummer (Nina)   Toni (Sabine Timoteo)

Interview mit Christian Petzold

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Wie ist die Idee zu ‚Gespenster’ entstanden?

Ende der 90er Jahre habe ich Rave von Rainald Goetz gelesen und einen Roman von Pavese, in dem es um zwei Künstler geht, die sich zwei Proletariermädchen als Modelle ins Studio holen. Diese Mädchen verbringen einen Sommer dort und infizieren sich ein bisschen an dieser Künstlerwelt. Als dann der Sommer vorbei ist und die Künstler dem Licht nachreisen, nach Nordafrika, lassen sie die Mädchen zurück, und die gehen zugrunde. Aus diesen beiden Sachen, der Geschichte von Pavese und dem Rave-Roman, der in der ganz frühen Love-Parade-Szene spielt, entwickelte sich ein erstes Exposé. Das hat damals aber niemanden interessiert. Später habe ich der Julia Hummer, mit der ich Die Innere Sicherheit gedreht hatte, von dieser Geschichte erzählt, und sie fand das interessant. Im Herbst 2000 sind wir zu einem Filmfestival geflogen, nach London, glaube ich, und ich habe ihr die ersten 20 Seiten einer anderen Geschichte gegeben, die ich mit Harun Farocki schrieb, nämlich die Geschichte einer Französin, die in Berlin ihre Tochter sucht. Und so ist das im Flugzeug nach London enstanden, wo ich mit ihr zusammen, kann man fast sagen, diese Geschichte weiter entwickelt habe. Harun Farocki hatte dann die Idee, diese beiden Geschichten zusammen zu bringen.

Man hat das Gefühl, dass allen Figuren in Ihrem Film etwas Gespensterhaftes eigen ist ...

Das ist ein interessanter Effekt. ... Wenn ein Film damit anfängt, dass zwei Mädchen von der Schule kommen, ihre Schultaschen wegwerfen und Eis essen gehen, dann haben die sofort eine soziale Definition. Aber die Mädchen, die Sabine Timoteo und Julia Hummer spielen, sind anders, die sind unbehaust, die haben keinen Raum, der sie definiert, keine soziale Definition. Die sind, so habe ich ihnen das erklärt, in einer Art Blase. Die wollen zu einem Casting, weil sie gerne gesehen werden möchten. Sie möchten gerne eine Identität bekommen, und sie können sich heute eine Identität nicht mehr so vorstellen, dass man eine Lehre macht oder so etwas ... Dieses „In-einer-Blase-Leben“, der Versuch, Kontakt mit etwas zu bekommen, was man Leben nennt, darum geht es in dem Film. Und jetzt ist der Effekt der, dass die anderen Figuren, die diese Mädchen berühren, plötzlich nicht mehr so aussehen, als ob sie alle ein tolles normales Leben führen – und nur diese beiden Mädchen keine Möglichkeit hätten, an diesem Leben teilzunehmen. Die Mädchen machen die gesamte andere Welt auch als „Blase“ kenntlich, sie zerlegen sie. Man hat das Gefühl, dass da, wo sie sind, ein Meter daneben ... dass da nicht die Normalität ist, sondern die nächste Gespensterzone anfängt. Ich weiß nicht, wie dieser Effekt jetzt im Film ist, aber bei dem, was ich bisher gesehen habe, finde ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Sie arbeiten seit langem mit den gleichen Partnern, z. B. mit Bettina Böhler in der Montage und dem Kameramann Hans Fromm. Was bedeutet diese Kontinuität für Ihre Arbeitsweise?

Ich kann z.B. besser schreiben, wenn ich schon mit den einzelnen sogenannten Departments gesprochen habe, also z.B. mit Bettina Böhler und dem Hans Fromm. Für Gespenster habe ich mit Hans die Schauplätze schon vor anderthalb Jahren fotografiert. Wir haben Spaziergänge gemacht und uns überlegt, wie man die Orte filmen kann, was das mit der Geschichte  zu tun hat. Der Hans Fromm ist ein Kameramann, der für die Geschichte denkt, der sich nicht selber in den Vordergrund filmt. Für Gespenster z.B. hatten wir die Idee, dass ein großer Teil an der Woltersdorfer Schleuse spielen sollte, in den Ruinen des alten Filmstudios aus der Stummfilmzeit. Da gibt es die Ruinen vom indischen Grabmal von Joe May, und das, was jetzt im Film rot und einfach der Innenraum einer Party ist, das sollte dort spielen. Dieses Stummfilm-Grabmal, diese komischen Mythologien der Weimarer Republik, Dracula,  indische Katakomben, unheimliche esoterische Gewalten, so eine Mythologie schwaberte da ... Das wollte ich für Gespenster reanimieren oder als so eine Art mythischen Untergrund haben. Aber als ich die Fotos mit Hans durchging, sah ich, dass die nicht-mythischen Teile, der Tiergarten, der Potsdamer Platz, eine Fußgängerzone, ein Parkplatz ... dass die mich wesentlich mehr interessiert haben als dieser Quatsch da unten. Das habe ich auch durch die Art und Weise gesehen, wie Hans das fotografiert hatte. Ich habe das dann alles rausgeschmissen. Reste davon sind vielleicht noch vorhanden im Film, in der Verbindung Wald und Stadt. Aber das sind wirklich Reste ... und diese Reste sind interessanter als das, was ursprünglich mal da war. Deshalb ist die Arbeit mit Hans für das Nachdenken über das gesamt Projekt sehr wichtig. Ich habe immer mit Hans gedreht, weil seine Kameraarbeit nicht vordergründig ist, weil er wahnsinnig gut kadriert, weil er in Sequenzen denkt, weil er weiß, was vorher war und was danach kommt, weil er für die Geschichte denkt.

Sie drehen eher wenige Einstellungen einer Szene.Was bedeutet das z.B. für die Montage?

Ich habe in der Arbeit mit Bettina Böhler gelernt, die Einstellungen, die ich drehe, präziser und anders, ein bisschen anders zu drehen. Ich fange früher in der Szene an und lasse sie länger laufen, als ich es eigentlich geplant hatte. Wenn man 50 Einstellungen von einem Boxkampf hat, dann stülpt sich der Schnitt über das Bild, dann sind die Bilder nur noch Zeichen. Aber die Präzision, die man haben muss, dieses Spielen... Mit den Darstellern ist es fast immer so, dass wenn die Darsteller das Gefühl haben: jetzt habe ich gespielt, was im Drehbuch geplant war, jetzt müsste eigentlich das „Danke!“ kommen ... dass wir dann die Szene noch ausatmen lassen. Früher habe ich es mir auch völlig verbeten, dass jemand den Schnitt vor mir macht. Ich wollte das absolute Verfügungsrecht haben. Als ich dann mit Bettina angefangen habe zu arbeiten, da hat sie schon geschnitten, während ich drehte, fast unmittelbar. Das war für mich im ersten Moment ... so eine Enttäuschung. Aber dann war es eine unglaubliche Erfahrung. Ich kann mich an die erste Szene erinnern, die so war, in Cuba Libre, die spielte im Berliner Ostbahnhof. Ich hatte eine klare räumliche Vorstellung vom Ostbahnhof, und so hatte ihn auch aufgelöst. Dann bekam Bettina das Material und baute den Ostbahnhof so um, dass ich ihn räumlich nicht mehr wiedererkannt habe, dass er einen eigenen Raum bekommen hatte. Auch die Art und Weise, wie sie die Blicke der sich dort Treffenden, wie sie die Begegnungen geschnitten hatte, war ganz anders, als ich es geplant hatte. Aber ich konnte die nächsten Drehtage ganz anders angehen, nachdem ich diesen Rohschnitt gesehen hatte. Ich wusste ja, dass die Figuren im Film sich wiederbegegnen würden ... und jetzt wusste ich, wie die erste Begegnung gewesen ist. Seitdem arbeiten wir so, dass ich vom Set jeden dritten Tag in den Schneideraum komme, und am Tag darauf den Darstellern von diesem Schnitt erzähle, wirklich filmisch erzähle, nicht psychologisiere oder etwas verstecke, sondern dass ich einfach sage: so sieht das aus, solche Assoziationen habe ich bekommen. So haben wir das immer besser geschafft, dass die Darsteller selber ein Gedächtnis für ihre Figuren bekommen. Nicht nur ein psychologisches Gedächtnis, sondern so etwas wie ein Raumgedächtnis, ein Körpergedächtnis ... Das gefällt mir. Es gibt eine Filmkritik von Serge Daney über Der Liebhaber, von der Duras-Verfilmung von Annaud. Da steigt dieser Liebhaber aus einem Auto, und die Kamera macht eine sehr lange Naheinstellung von seinem sehr teuren Schuhwerk ... und dazu meint Daney, dass dieses Bild nur noch heißt: „Dieser Mann trägt teure Schuhe.“ Diese Einstellung korrespondiert mit keiner anderen Einstellung im Film mehr, sondern sie verlangt dem Zuschauer nur noch eine Dekodierung ab: „Ah ja, der ist reich“ ... so ähnlich, wie man Werbung sieht. Das ist eine Entwicklung im Kino, die ich furchtbar finde, die von den Zuschauern nur noch ein „Ja/Nein“, Abnicken oder Kopfschütteln verlangt. Dadurch, dass ich jetzt den Rohschnitt von Bettina schon während des Drehens sehe, denke ich nicht mehr an dieses „Ja/Nein“, sondern daran, wie ich eine solche Einstellung im Film wiederfinden und Korrespondenzen schaffen kann. Das ist eine Arbeitsweise, die durch die Zusammenarbeit mit Bettina entstanden ist.

Warum drehen Sie ohne Monitor am Set?

Weil man sonst bescheuertes Zeug redet. Weil man sich dann nicht mehr die Schauspieler anschaut, sondern das, was später im Schneideraum passiert. Wenn wir im Schneideraum ein Bild vor uns haben, dann rede ich anders darüber, als wenn ich die Schauspieler vor mir habe. Im Schneideraum hat das Bild einen Wert, dann gehe ich nicht mehr in die Inszenierung. Wenn ich aber am Set auf einen Monitor starre – und dahinten spielen die Schauspieler – dann sage ich nur noch, „ein bisschen mehr nach rechts oder links ...“ Dann erstirbt alles. Monitore sind immer Kontrolle. Im Schneideraum, wenn wir zwei Monitore haben, hört die Kontrolle schon auf, dann geht es um Kombinationen.

Aber mit diesem einen Bild, auf einem Monitor am Set, weiß ich nicht mehr, warum eine Szene zwischen den Schauspielern nicht funktioniert. Ich weiß nur noch, dass sie nicht funktioniert. Meine Überlegungen dazu beziehen sich auf das Bild, nicht auf das Spiel. Ich gehe nach einer Szene auch immer zuerst zu den Schauspielern und schaue, wie das für die gewesen ist. Erst dann gehe ich zu Hans und frage, ob das technisch ok war. Die Wahrheit erfahre ich sowieso vom Tonmann, über den Kopfhörer. Ich finde den Ton viel wichtiger für das Spiel als das Bild. Ich höre am Tonfall, ob das gespielte Scheiße war oder ob irgendwas da war. Das kann man nicht sehen.

Sie haben für ‚Gespenster’ zum ersten Mal viel mit der Steadicam gearbeitet ...

Bei der Inneren Sicherheit hatten wir nur Schienenfahrten. Schienenfahrten sind in irgendeiner Form immer profilig. Bei Toter Mann hatten wir zum ersten Mal eine Steadicam, in einer Parkszene, in der ein Mann eine Frau verfolgt. Mit der Steadicam konnte ich vor ihm und hinter ihm langfahren, wodurch das so etwas Traumsequenz-Ähnliches bekam. Die Figuren lösten sich aus ihren Definitionen und kreisten umeinander. Für Gespenster habe ich gedacht, wenn Gespensterkinder, die in so einer Blase leben, aus der Blase raus wollen, dann müsste man sie genauso filmen wie diese Parksequenz. Auch Hans war der Meinung, dass man diesen Effekt nur mit einer Steadicam erreichen kann. Das zweite, was mir an der Steadicam im Gegensatz zur Schiene gefällt, ist, dass die Schauspieler von der Schiene immer erschlagen werden. Da liegen dann fünfundzwanzig Meter Schienen ... und die Schauspieler stehen davor, und die Schiene ist wie ein Geländer für den Dialog oder die Körperbewegung. Sie richten sich an der Schiene aus. Aber die Steadicam nehmen sie nicht ernst. Die Tanzszene in Gespenster ist komplett mit der Steadicam gedreht. Innerhalb einer Minute war die Steadicam von den Schauspielern vergessen, der Aufnahmeapparat war nicht mehr vorhanden. Das ist etwas, was ich wichtig finde.

Wie sehr lassen Sie sich während des Drehens auf Abweichungen vom Drehbuch ein?

Das Drehbuch ist in den letzten Jahren total ideologisiert worden. Das Drehbuch ist ein Vertragswerk geworden, das ist das, was man in den Händen hält. Es gibt 7 Fassungen davon, man trifft sich zu Stoffentwicklungsgesprächen, und die sind ja auch ok ... Aber irgendwann ist der Stoff entwickelt, und ich habe das verinnerlicht und weiß, worum es geht. Dann schmeiße ich vor dem Drehen das eigentlich alles weg. Denn die Metapher, das, worum es geht, die muss in mir sein. Die Schauspieler tragen das Drehbuch sowieso in sich, die haben die Texte ja auswendig gelernt. In die Proben, die jeden Morgen am Drehtag stattfinden, gehe ich rein, ohne das Drehbuch am Abend vorher nochmal gelesen zu haben. Ich mache mir nur klar, worum es in der Szene geht. Dabei sind natürlich die Erinnerungen, die ich am Schneidetisch gewonnen habe, ganz wichtig. Ich kann mit den Schauspielern dann so sprechen, dass ich sage: „Was ist da, was kann man weglassen, was ist wichtig, worauf kommt es an?“ Wir haben z.B. gestern, an unserem vorletzten Drehtag, eine Szene gehabt, die drei Seiten Text im Drehbuch umfasst hat. Wir haben den Text dann auf 4 Sätze ... runtergewirtschaftet. Weil es überhaupt nicht ging. Man merkte einfach die Autorenidee, man merkte, dass den Figuren Texte untergeschoben worden sind, um sie den Lesern eines Drehbuchs nahezubringen. Und statt diesem riesigen Text über Lissabon und Hotel Palacio sagt die Anna Schudt jetzt einfach: „Die ist mit meinem Mann weg zum Ficken.“ Aber so, wie sie das sagt, spricht sie den ganzen Text mit, den ich vorher geschrieben hatte. Man sagt immer, die Schauspieler kämpfen um ihre Texte, um das Licht, um Naheinstellungen ... aber das stimmt gar nicht. Wenn die Schauspieler die Szene begreifen, dann spüren sie, dass ihr physisches Spiel dem Text immer überlegen ist. Und wenn die Inszenierung und die Arbeit so werden, dass die Sätze, die mal da waren, eine Leerstelle hinterlassen, die interessanter ist als der Satz selber, dann ist schon mal was gewonnen.

Auch in ihren letzten Filmen geht es um Figuren, die versuchen, wieder Anschluss ans Leben zu finden ...

Die Innere Sicherheit hieß am Anfang auch Gespenster... weil die Terroristen Gespenster waren, die Menschen werden wollten. Die fünf Millionen Arbeitslosen, die wir heute haben, sind ja eigentlich auch Gespenster, die in so einer Blase, in einer Parallelwelt leben ... Ich mag diese Bewegung, wenn das, was man Normalität nennt, nicht der Ausgangspunkt ist. In vielen Filmen wird erst einmal 20 Minuten lang die Normalität dargestellt, eine Realität, in die dann irgend etwas einbricht, etwas Unwirkliches, ein Verbrechen ... Ich mag es, wenn die Figuren von Anfang an außerhalb der Normalität stehen, wenn sie von draußen kommen. Normalität wird aus dieser Perspektive etwas anderes, sie verschiebt sich, man sieht sie anders. Ich mag dieses Bestreben der Figuren, normal zu werden, Teil irgendeiner Normalität oder eben der Vorstellung von Normalität zu werden. Man muss das Normal-Sein dann nicht mehr erzählen, sondern man erzählt von der Vorstellung des Normal-Seins. So wie sich Leute im Krankenhaus vielleicht vorstellen, wenn ich wieder rauskomme, dann will ich das richtige Leben erleben, Leute treffen, die Natur atmen ... Aber das richtige Leben im Film ist immer eine Karikatur davon.

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